Preisträger Garri Kasparow (li.) im Gespräch mit Verleger Wolfram Weimer (Foto: WEIMER MEDIA GROUP).
Kommt nach Krieg und Krisen das neue Wirtschaftswunder? Um diese Frage kreiste der Ludwig-Erhard-Gipfel am Tegernsee und bat führende Köpfe aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft um Antworten.
Die Corona-Pandemie ist vorüber, doch weiterhin haben Krisen Deutschland fest im Griff – ob Ukraine-Krieg, Inflation, Energiekrise oder Klimakrise. Inmitten dieser Krisenlagen fand der Ludwig-Erhard-Gipfel (LEG) am Tegernsee statt. „Das Meinungsführertreffen Deutschlands“ machte einmal mehr deutlich: Eine umfassende Debatte zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien ist nötiger denn je. Zum Diskurs versammelten die Verleger Christiane Goetz-Weimer und Wolfram Weimer der gastgebenden WEIMER MEDIA GROUP am 3. und 4. Mai 2023 die Top-Entscheider der Republik und darüber hinaus. Auf Gut Kaltenbrunn in Gmund am Tegernsee versammelten sich 1000 Gäste an beiden Tagen. Beim diesjährigen Get-together im Geiste Ludwig Erhards sprachen die Vordenker und Entscheider zum Thema: „Kommt nach Krieg und Krisen das neue Wirtschaftswunder?“, um Lösungsansätze für die großen Krisen zu finden. Das „deutsche Davos“ (ARD) legte einen thematischen Schwerpunkt auf die Neuordnung der Europäischen Sicherheitsarchitektur, die Wettbewerbsfähigkeit Europas sowie nachhaltiges Wachstum im Einklang mit den Werten der Sozialen Marktwirtschaft und ökologischen Zielen. Die gesamte Konferenz wurde live auf www.ntv.de und www.antenne.de übertragen.
Zusammentreffen zur Zeitenwende
Der Gipfel war eine Konferenz der Zeitenwende. Dies offenbarte bereits die Eröffnungsrede „Wohin wendet sich die Zeit?“. „Normalerweise würde ich ,Hurra!‘ rufen, wäre da nicht die Zeitenwende, die der Kanzler ausgerufen hat“, sagte Christiane Goetz-Weimer, Verlegerin der WEIMER MEDIA GROUP. Der Begriff „Zeitenwende“ sei eingängig und viel zitiert, aber dennoch unscharf. „Bei genauem Hinsehen ist die Wende der Zeit etwas anderes: das Nebeneinander des Widersprüchlichen. Dieser eigentümliche Bruch des Zusammenhängenden ist die Zeitenwende“, erklärte Goetz-Weimer. Dazu passe auch, dass sie die Gipfelteilnehmer im „Paradies am Tegernsee“ willkommen heißt, während nur eine Flugstunde von dort entfernt der Krieg tobt. Die Deutschen hätten gelernt, mit diesen extremen Kontrasten zu leben, selbst in ihrer Heimat. Kulturwissenschaftler nennen das „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, ein Begriff der Frankfurter Schule. „Später wird man einmal sagen: Genau das war typisch für unsere Zeit.“
Es ist ein Nebeneinander von eigentlich Unvereinbarem. „Unsere Zeit ist so eigenartig gewendet, dass wir bei vielen Themen gar nicht mehr wissen, ob wir lachen oder weinen sollen“, sagte Goetz-Weimer. „Deshalb passt unsere eigenartige Regierungskoalition perfekt in diese Zeit. Deshalb könnte man auch Ampel-Zeit sagen“, ergänzte sie und ordnete die aktuellen Welt-Themen in rote, grüne und gelbe Ampelzeichen ein. „Es wird gestorben wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr“, sagte die Verlegerin über den Ukraine-Krieg, der Europa bedrohe. Deshalb richte die diesjährige Konferenz das Scheinwerferlicht auf den innerrussischen Widerstand und zeichne den Oppositionellen und ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow mit dem „Freiheitspreis der Medien“ aus. „Wir werden der Welt zeigen, dass die russische Opposition nicht alleine ist.“ Umso wertvoller erscheint in dieser Zeit von Krieg und Krisen der offene Austausch und die freie Meinungsäußerung wie beim Gipfel. „Der Ludwig-Erhard-Gipfel ist neben der Münchner Sicherheitskonferenz die zweite große Bühne für den Dialog“, sagte die Verlegerin und Journalistin.
Debatten vom Atomausstieg bis hin zur Vier-Tage-Woche
Wie die Zeitenwende Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft veränderte, thematisierten die zahlreichen Debatten über Arbeitswelt, Vier-Tage-Woche, Heizungsgesetz, Atomausstieg, Digitalisierung und KI, Gesundheit, Finanzen, Handel, Innovation, innere und äußere Sicherheit sowie Iran-Bewegung. Hier diskutieren unter anderem Markus Duesmann, Vorstandsvorsitzender von AUDI, Christian Sewing, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, Gründer und Technologie-Investor Frank Thelen, Burkhard Balz, Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, Gerda Hasselfeldt, Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, Michael Sen, Vorstandsvorsitzender von Fresenius, und Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebunds. Auf politischer Ebene Stellung bezogen beispielsweise der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der Stellvertretende Bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler), Erbprinz Alois von und zu Liechtenstein, der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel, Ilse Aigner, Präsidentin des Bayerischen Landtags, Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag sowie Nargess Eskandari-Grünberg, Oberbürgermeisterin von Frankfurt am Main.
Parteichefs im TV-Duell
Die Bundesvorsitzenden ihrer Parteien Lars Klingbeil (SPD), Friedrich Merz (CDU), Ricarda Lang (Bündnis 90/Die Grünen) und Christian Lindner (FDP) trafen beim ntv-Talk aufeinander, um launig miteinander zu streiten. Die große Arena der Parteivorsitzenden wurde live im Fernsehen übertragen. Obwohl drei der vier Diskussionsteilnehmer gemeinsam die Ampel-Regierung bilden, waren die Rollen bei der Debatte alles andere als klar verteilt. Auffallend: Oppositionsführer Merz und Regierungspolitiker Lindner waren sich erstaunlich einig. Die Diskussion, die um die Themen Heizungsgesetz bis Asyl kreiste, verlief wenig eindeutig und förderte erneut die Unstimmigkeiten innerhalb der Koalition zu Tage.
Große Bühne für Start-ups
Unternehmer, die den Sprung in die Öffentlichkeit noch nicht geschafft haben, denen er aber womöglich bald bevorsteht, erhielten beim LfA Elevator-Pitch um den FUTURE AWARD eine Plattform. Im Vorfeld des Gipfels hatte die LfA Förderbank Bayern fünf vielversprechende Unternehmen ausgewählt: Tado, Cobrainer, EGYM, Isar Aerospace Technologies und NavVis. „Alle Beispiele für Zukunft aus Bayern“, wie LfA-Chef Bernhard Schwab sagte. Mit einem Pitch hatten die Gründer die Gelegenheit, ihr Unternehmen vorzustellen. Auf der Bühne erhielten sie so viel Zeit, wie ein Aufzug in den obersten Stock benötigt – die Zeit, die der Legende nach ein Mitarbeiter hat, um seinen Chef von einer genialen Idee zu überzeugen.
Gewonnen hat mit Tado eine Firma, die die Energiewende nachhaltig vorantreibt und Kunden Geld spart. Das Münchener Start-up stellt smarte Thermostate her, mit denen sich auch bestehende Heizungen leicht nachrüsten lassen. Der Thermostat ist mit einer Cloud verbunden, lässt sich durch eine App via Smartphone steuern. Die Ersparnis: pro Kunde durchschnittlich 22 Prozent oder 300 Euro im Jahr. Das Unternehmen hat inzwischen mehr als drei Millionen Thermostate verbaut, Ende 2023 sollen es rund fünf Millionen sein. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns gegen Raketen durchsetzen können“, sagte Till Schicke, Head of Business Solutions bei Tado. Der FUTURE AWARD ist mit einem Mediavolumen in Höhe von 100.000 Euro dotiert.
Plädoyer für mehr Mut
Solchen Mut, wie ihn die Gründer von Start-ups beweisen, wünschte sich Ulrich Reinhardt von allen Deutschen. Der Wissenschaftliche Leiter der „Stiftung für Zukunftsfragen – eine Initiative von BAT“ hielt auf dem Gipfel ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Mut in der Gesellschaft. Immerhin geistert „German Angst“ durch das Land und bestimmt das Denken der Deutschen. Der Begriff „German Angst“ hat es sogar ins Oxford Dictionary geschafft – so sehr gilt Furcht als Charakterzug einer Nation. Womöglich fühlen sich „letzte Generationen“ hierzulande wohler als anderswo. Zukunftsforscher Reinhardt forderte ein Ende dieser Denkweise und rief die Gipfelgäste zu mehr Mut auf – und dem Abschied von Sorgen und Perfektionismus. Reinhardt ist auch Herausgeber des Sammelbandes „German Mut statt German Angst – 44 Ideen für eine bessere Zukunft“. Das erste Buch der Tegernsee Summit Edition wurde auf dem LEG erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.
„Freiheitspreis der Medien“ für russischen Widerstand
Bereits enormen Mut bewiesen hat Garri Kasparow. Der russische Oppositionelle und ehemalige Schachweltmeister kämpft unter Gefahr für sein Leben gegen das Regime in Russland. Dafür erhielt der 60-Jährige den „Freiheitspreises der Medien 2023“. Die Preisverleihung gilt als Höhepunkt des Ludwig-Erhard-Gipfels. „Die Welt kennt Garri Kasparow als legendären Schachweltmeister. Doch in einem zweiten Leben ist er zu einem der prominentesten Oppositionsaktivisten Russlands geworden, der mit seinem mutigen Einsatz für Frieden und Demokratie sein Leben riskiert. Schon seit 20 Jahren kämpft Kasparow als lautstarker Kritiker Putins und Verfechter eines gewaltfreien Widerstands für die Menschenrechte in Russland“, hieß es in der Jury-Begründung. Der Preis wird zugleich stellvertretend und als Ermutigung für alle Russen verliehen, die für ein künftiges friedliches und freiheitliches Russland eintreten. Er verkörpert die Hoffnung, dass Russland irgendwann wieder zu einem konstruktiven Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft wird.
Mit den oppositionellen Bewegungen „Das andere Russland“, „Vereinigte Bürgerfront“ oder „Solidarnost“ versuchte der Schachweltmeister politisch legale Oppositionen zu organisieren, doch Putins Staatsapparat ging immer brutaler gegen ihn vor. Nach Verhaftungen und Misshandlungen durch die Polizei flüchtete Kasparow und lebt seit 2013 in New York und Split. Seit Jahren gilt Kasparow als informeller Oppositionsführer Russlands im Exil.
Minutenlang applaudierten die Besucher im Saal, als der Preis an Kasparow verliehen wurde. „Der diesjährige ,Freiheitspreis der Medien‘ ist einem Helden gewidmet“, sagte Nicola Beer, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Man müsse Freiheitskämpfer ehren und ihnen Mut zusprechen, seien sie bekannt oder unbekannt. „Du stehst mit deinem Leben dafür“, sagte Beer zu Kasparow. „Du hast sehr früh den menschenverachtenden Charakter des Putin-Regimes erkannt und angesprochen.“ Die Politikerin sprach auch Defizite des Westens an: „Manchmal frage ich mich, ob wir im Westen gegenüber dem Geschehen im Osten aufmerksam genug sind.“
Der Preisträger ließ im Gespräch mit Verleger Wolfram Weimer keinen Zweifel daran, sich unabhängig aller persönlichen Gefahren weiter für Freiheit und Demokratie in Russland einzusetzen. „Würde es helfen, wenn ich Angst hätte? Nein. Ich weiß, dass es immer Risiken gibt, so viele meiner Mitstreiter sitzen im Gefängnis oder sind schon tot. Aber ich habe weiterhin die Hoffnung, dass ein freies Russland möglich ist. Wir, die noch da sind, bereiten den Boden dafür vor“, sagte Kasparow.
Glamouröser Gipfel-Rahmen
Neben der festlichen Preisverleihung besaßen die beiden Gipfeltage auch einen feierlichen Rahmen – zu Beginn und am Ende. Noch bevor die ersten Redner das Podium des LEG betraten, beging der Tegernsee Summit seinen feierlichen Auftakt: Mit einem Empfang der Bayerischen Staatsregierung rund um die LEG-Schirmherrschaft des Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder wurde am Vorabend der Konferenz der Gipfel eingeläutet. Den traditionellen und beliebten Konferenz-Abschluss bildete indes die Gipfel-Nacht im Hotel DAS TEGERNSEE. Nach zwei Tagen voller intensiver Debatten ließen die Gäste beim Networking mit Musik und kulinarischen Köstlichkeiten den LEG 2023 stilvoll ausklingen.
Von Vera König